Das Festival de Musica Visual findet zum zwölften Mal auf Lanzarote statt. Die Insel geht so verschwenderisch mit ihren landschaftlichen Schönheiten um, dass man nach Aufführungsorten nicht lange suchen muss. Das Bild bestimmt den Ton. Leider war kurz vor Beginn des Festivals von der Decke einer der schönsten Höhlen der Insel ein Stein gefallen, so dass aus Sicherheitsgründen die Hälfte der Konzerte ausfallen musste. Doch was übrig blieb, war allemal einen Trip auf das Kanaren-Eyland wert. Die Musik berührte ganz unterschiedliche Bereiche wie neue Musik, Jazz und Ambient, doch in jedem Fall lief es auf dasselbe hinaus. Synästhesie, die Einbeziehung verschiedener Sinne in ein künstlerisches Erlebnis hebt die Grenzen zwischen den Kategorien auf.
Oben im Norden reißt die Vulkaninsel ihr Maul auf. Man betritt ihren Schlund und begibt sich in ein Gewirr von Därmen. Tiefe unterirdische Seen täuschen das Auge über die wahren Dimensionen der Cueva de los Verdes. Nachdem man etwa 300 Meter durch ein Labyrinth aus riesigen Hallen und engen Gängen immer tiefer gelangt ist, gelangt man in einen Raum, der an das Innere einer Kathedrale erinnert. Verblüfft nimmt man ein Podium wahr, auf dem eine Geige und ein Kontrabass stehen. Maya Homburger und Barry Guy improvisieren im Duo. Ihre Musik erinnert nicht wenig an das Gewirr der Höhlengänge. Völlig freie Strukturen wechseln sich mit Komponiertem ab, spontan Ausgedachtes mit Programmiertem und Geschichtetem aus dem Computer, Barockes mit Futuristischem. In diesem von der Natur gegossenen Raum prallt die Ewigkeit auf den Augenblick. Das Duo leuchtet die Grotte mit Klängen aus, entwirft einen Gegenraum, tritt mit dem Jahrtausende alten Gestein in einen Dialog, der sich über die Köpfe des Publikums hinweg entfaltet. Einen Tag später trifft der deutsche Jazz-Bassist Eberhard Weber in der Cueva de los Verdes ein. Im Bauch der Insel kehrt er seine eigenen Innenwelten nach außen, lässt sich von der Vielgestaltigkeit der unmittelbaren sakralen Naturempfindung zu ungeheuer filigranen und fragilen Monologen auf dem Bass hinreißen.
Am nächsten Tag bleiben wir auf der Oberfläche der Insel. Mit Bussen geht es in die Kraterlandschaft. Es ist, als würde man über den Mond schweben. Das Hier und Jetzt scheint einer anderen Dimension anzugehören. Gelber Schwefel überzieht das schwarze Gestein und gibt der Erde die Anmutung eines Feuersalamanders. Im Inneren des Volcan de Cuerva erwarten uns Brian Eno und Peter Schwalm. Um ihre gigantische Anlage lässt sich das zu Tausenden zusammen strömende Publikum im Kreis nieder. In den Wänden des Kraters sind mannigfache Lautsprecher installiert. Erst als es dunkel wird, nehmen wir die Lichtreflexe der gigantischen grünlich gelben Mauern wahr. Eno und Schwalm spielen eine aus drei Sätzen bestehende Sinfonie über den Sinn der menschlichen Existenz im Angesicht der Ewigkeit, veranschaulicht durch das von Sternen übersäte Firmament über der Krateröffnung. Genau berechnet ist jeder Ton. Meteorologen mussten vor Beginn der Klanginstallation die Windstärke angeben, weil das Volumen darauf abgestimmt werden musste. Die Klänge und monotonen Wortfetzen kommen von oben, unten, aus dem Raum und entstehen nicht zuletzt im Kopf des Zuhörers. Die Bilder leben auch weiter, wenn man die Augen schließt.
Nur ein kühles Bad im Ozean kann am nächsten Morgen die Intensität der sinnlich ätherischen Wahrnehmung wieder ins rechte Verhältnis zu den Elementen setzen. Das 13. Festival de Musica Visual kommt bestimmt. Wer Musik einmal anders sehen möchte als via MTV sollte sich diese einzigartige Gelegenheit nicht entgehen lassen.
Bis zum nächsten Urlaub,
Wolf Kampmann