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Herbie Hancock
Where’s The New Music?

Wolf Kampmann
Eine Legende kehrt zurück. Herbie Hancock, von den frühen Sechzigern bis in die Achtziger hinein ein Innovator und Grenzgänger, lief in den neunziger Jahren dem eigenen Schatten hinterher. Doch die Zeit der Besinnung ist vorbei. An der Seite von Bill Laswell fasst er wieder die Zukunft ins Auge.

Es ist schon erstaunlich. Herbie Hancock, der über Jahrzehnte dem Zeitgeist immer ein Dutzend Schritte voraus war, in den Sechzigern den hippsten Hardbop unter der Sonne spielte und in der Band von Miles Davis die Welt rettete, in den Siebzigern den elekrifizierendsten Electric Jazz überhaupt produzierte und in den Achtzigern mit dem Album „Future Shock“ und dem Song „Rockit“ die Weichen stellte, um schwarze Pop-Musik auf einem ganz neuen Level mit Jazz zu verbinden, brauchte eine Auszeit von mehr als zehn Jahren, um sich auf seine eigene Musikalität zu besinnen. Nach dem lustlosen Zeitgeist-Versuch „Dis Is Da Drum“ von 1995, einem Album, das er nicht einmal selbst hören mochte, folgten drei mehr oder weniger traditionelle Platten, die schon wenige Tage nach ihrem Erscheinen wieder in Vergessenheit gerieten. Das George-Lucas-Jahr 2001 brachte uns Herbie Hancock mit der musikalisch adäquat übersetzten Formel „Future II Future“ zurück.
Da ist eine Platte, deren Vielfalt genau so schwer zu fassen ist wie die vielen Stränge der Karriere Herbie Hancocks. Am Anfang stehen griffige, hervorragend produzierte und packend inszenierte Pop-Jazz-Songs mit Gästen wie Chaka Khan, Rob Swift oder A Guy Called Gerald. Die Hand des Produzenten Bill Laswell ist ebenso deutlich spürbar wie auf ihrer ersten gemeinsamen Arbeit „Future Shock“ anno 1983. Nach diesen Stücken durchschreitet man mit dem Track „Tony Williams“ eine spirituelle Pforte, die in den zweiten Teil des Albums, einen Garten der Imagination führt. Hancock brauchte einen langen Anlauf für diese Platte. Sein letztes Album „Gershwin’s World“ liegt immerhin drei Jahre zurück. Doch lassen wir den Meister selbst seine Geschichte erzählen. „Auf ‚Gershwins World‘ folgten viele Touren. Die Musik Gershwins ist auf der ganzen Welt bekannt, und wir gaben diesen Melodien eine bestimmte Qualität. So gab es viele Anfragen, die viel Zeit in Anspruch nahmen. Danach stellte sich jedoch die Frage, welche Platte ich jetzt machen wollte.“
Der Zufall wollte es, dass just zur selben Zeit Bill Laswell Hancocks Manager fragte, ob der Pianist nicht an einem seiner Projekte partizipieren wolle. Der Manager entgegnete, dass Laswell lange nicht mehr für Hancock gearbeitet habe und ob er nicht seine neue Platte produzieren wolle. Beide fanden die Idee großartig. Im Frühjahr 2000 begannen Hancock und Laswell über das Projekt zu sprechen. „Wir redeten nicht einmal direkt über unsere Platte“, erinnert sich Hancock. „Ich fand es viel wichtiger, uns darüber Klarheit zu verschaffen, wo wir zu diesem Zeitpunkt mit unserem Leben angekommen waren. Meine Perspektive auf die Musik hat sich gegenüber der Vergangenheit stark verändert. Mein Zugang kommt nicht mehr vom Selbstverständnis als Musiker, sondern geht viel tiefer auf den Wunsch zurück, meine Funktion als menschliches Wesen transparent machen. Diese Musik ist ein Ausdruck meines Gefühls gegenüber dem Leben, meiner Verantwortung, meinem Verhältnis zum Humanismus. Wofür steht meine Musik? Diese Frage ist für mich viel wichtiger als Akkorde, Noten und Harmonien. Miles Davis lehrte mich, dass Musik immer einen Bezug zum Leben haben muss. Er ermutigte uns stets, Risiken einzugehen, uns hinter die Zone des uns Bekannten zu begeben, unbequeme Stellungen in der Musik einzunehmen und für das zu stehen, woran wir glauben. Uns niemals zufrieden zu geben, immer schöpferisch zu sein und neue Bands zu gründen. Wenn wir Miles hörten, begriffen wir die Wichtigkeit zu teilen, zuzuhören und einander zu vertrauen. Miles musste darüber keine Worte verlieren. Man brauchte ihm nur zuzuhören. Und genau um diese Dinge drehte sich mein Gespräch mit Bill.“
Bill Laswell bot sich für diese Art Gespräche an, da er sich seit der Arbeit an „Panthalassa“ sowieso als Nachlassverwalter von Miles versteht, der den Spirit des großen Trompeters und Mentors von Herbie Hancock in unsere Zeit trägt. Er leistete dem Pianisten von Anfang an die entscheidenden Hilfestellungen. „Bill“, so Hancock, „machte mich auf jene Cutting-Edge-Bewegung aufmerksam, die wir hier in Amerika Electronica nennen. Ich hatte keinen Schimmer, dass diese Musik überhaupt existiert. Bill sagte mir aber, dass viele Menschen, die heute diese Musik ausgraben, von meinen früheren Aufnahmen inspiriert sind. Platten wie ‚Sextant‘ oder ein Stück mit dem Titel ‚Nobu‘, das ich für die japanische Platte namens ‚Dedication‘ aufgenommen hatte. Ich konnte mich nicht einmal an dieses Stück erinnern und wollte kaum glauben, was er da sagte. Das war damals wirklich ziemlich avantgardistische, spontane Musik. Aber es hatte trotzdem Struktur. Bill fand es gerade interessant, mich mit einer Musik zu konfrontieren, von der ich keine Ahnung hatte, die aber von meiner früheren Musik beeinflusst ist. Was würde passieren, wenn ich meinen eigenen Abdruck aus meiner heutigen Perspektive in dieser Musik hinterließe? Wir sprachen auch darüber, welche Werte ich aus der Musik meiner Vergangenheit auf diese CD mitnehmen wolle. Ich stellte fest, dass auf nur sehr wenigen meiner Alben die menschliche Stimme eine Rolle spielt. Ich wollte die Stimme nicht nur als Gesang einsetzen, sondern auch als Spoken Word.“
Unweigerlich stellt sich beim Hören der Platte die Frage, ob „Future II Future“ nicht viel mehr ein verstecktes Album Bill Laswells ist als ein echtes Hancock-Opus. Produktion, Sound, der Umgang mit Dynamik und Technologie sowie die Einbeziehung verschiedener Ethnien lassen nur allzu deutlich die Obsessionen des Produzenten erkennen. Doch der winkt ab. „Herbie wusste von Anfang an, was er wollte. Meine Aufgabe als Produzent bestand darin, diese Potenz in Musik umzusetzen. Auch wenn es seine letzten Alben kaum verraten, ist Herbie einer der letzten Visionäre des Jazz. Es ist nur wie bei Miles. Er braucht den richtigen Produzenten, um seine Energie auch adäquat aufs Tape zu bringen.“
Hancocks Musik erscheint wie eine Plattform der Imagination, von der aus der Maestro im Begriff ist zu abzuheben. Es geht viel mehr um den musikalischen Prozess und weniger um Songs. Eine spirituelle Erfahrung. Einerseits klingt das Album wie das Statement eines erfahrenen Philosophen, der hoch über den Läufen der Welt steht. Andererseits klingt es wie die Platte eines Jugendlichen, der auszieht, die Welt zu entdecken. „Es gibt viele junge Menschen, die an dieser Platte teilhaben. Sie hätten das Album nicht ohne mich machen können und ich nicht ohne sie. Da ist eine Art Kollaboration zwischen jungen Menschen, die wenig Erfahrung haben, weil sie einfach noch nicht lange genug dabei sind, und alten Hasen wie mir selbst, Wayne Shorter, Tony Williams, Jack DeJohnette. Wir haben versucht, das Beste aus beiden Welten auf höchstem Niveau zu kombinieren. Den Erfindungsgeist und die Neugier der Jungen mit der Kraft und Erfahrung der Älteren. Dazwischen haben wir diese Leute wie Chaka Khan und Charnett Moffett, die Brücken zwischen den beiden entfernteren Generationen schlagen. Der Input dieser verschiedenen Altersgruppen ist ein wichtiger Aspekt dieser Platte.“
Auch dieses Prinzip klingt stark nach Bill Laswell. Doch woraus Hancock gar keinen Hehl macht, da kann Laswell gar nicht genug abwiegeln. „Man darf Herbie wirklich nicht unterschätzen. Alle sprirituellen und konzeptionellen Ideen gehen auf ihn zurück. Ich habe lediglich ein paar Übersetzungen dafür gefunden. Die letzte Entscheidung lag immer bei Herbie.“ Halten wir uns also lieber an Mister Hancock, um herauszufinden, wie die Zusammenarbeit mit Herrn Laswell im einzelnen funktionierte. „Normalerweise präsentiert mir Bill einige Tracks mit Schlagzeug und Bass oder einigen Ambient Sounds. In diesem Fall arbeiteten wir etwas anders. Das erste Mal, dass ich seine Tracks überhaupt hörte, war, als ich im Studio am Keyboard saß und er auf Aufnahme drückte. Ich reagierte ganz unmittelbar auf meinen ersten Eindruck dieser Tracks. Wir wollten den wahren Geist von Inspiration und Spontaneität. Nichts war komponiert oder vorher konstruiert.“
„Herbie“, so Bill Laswell, „ist der einzige Musiker dieser Generation von Fusion-Protagonisten, der die Zeichen der Zeit verstanden hat. Auf der Schwelle zum neuen Jahrtausend hat die Melodie einfach ihre Relevanz verloren. Melodien waren notwendig, weil die Vielfalt rhythmischer Ausdrucksformen einfach zu gering war. Heute haben wir einen gigantischen Fundus rhythmischer Kombinationen, die die Funktion der Melodie übernehmen. Herbies Melodien waren schon in den Sechzigern von starker rhythmischer Präsenz. Es ging darum, einen Weg zu finden, diese Qualität in einen aktuellen Kontext zu stellen.“
Herbie Hancock überlegt einen Augenblick, kann jedoch nicht hundertprozentig zustimmen. „Ich verstehe seine Perspektive. Die Melodien und Harmonien sind heute wesentlich einfacher geworden. Wenn Bill über Rap spricht, hat er völlig recht, denn da gibt es nur Rhythmus und keine Melodie. Aber es gibt ja auch noch andere Musikformen. Selbst im Pop ist die Melodie noch existent. Aber sie ist viel einfacher als in den Zwanzigern bis Vierzigern.“ Verglichen mit der Gershwin-Platte oder dem Duo-Album mit Wayne Shorter behandelt Hancock Melodien mittlerweile jedoch selbst ganz anders. Indem er auf diesen dichten Grooves und Drones spielt, verändert sich sein Zugang zur Melodie. „Zunächst denke ich, dass diese Musik sehr visuell und zugleich dramatisch ist. Als Bill einige der Tracks spielte und ich mein eigenes Spiel darüber legte, zogen bestimmte Bilder durch meinen Kopf. In dem Song ‚Kebero‘ gibt es afrikanische Trommeln mit einem ganz hellen Synthesizer-Sound darüber. Das klingt in meinen Ohren wie Heuschrecken vor brennender Sonne. Auf dieser Platte finden sich schon Melodien, aber ich lege sie zuweilen ganz ans Ende der Stücke. Ich wollte eine Art Melodik erreichen, wie ich sie von Miles Davis erwartet hätte. Die meisten Melodien auf dieser Platte sind ganz einfach, denn da ist bei allem Minimalismus so viel Komplexität, dass die Stücke simple Melodien brauchten.“
„Future II Future“ ist ein vielschichtiger Titel. Auf vielen Platten unserer Zeit wird einfach Zukunft und Vergangenheit verknüpft. Auf Hancocks neuer Platte gibt es viele unterschiedliche Levels von Tradition und Zukunft. „Da ist eine gewisse Offenheit gegenüber der Zukunft“, stimmt Hancock zu. „Es geht um Möglichkeiten. Wir sind jetzt nicht nur in einem neuen Jahrhundert, sondern beginnen ein neues Jahrtausend. Doch wo ist die neue Musik? Diese Frage versteckt sich hinter ‚Future To Future‘. Nicht, dass ich DIE Antwort hätte, aber es ist vielleicht EINE Antwort. Ich hoffe, andere Künstler zu inspirieren, ihre eigenen Antworten und weitere Möglichkeiten zu finden.“
Trotz seines Titels und Produzenten ist „Future II Future“ in keinerlei Hinsicht Nachfolger oder zweiter Teil zu „Future Shock“. Hier geht es eher darum, Pfade viel früherer Perioden wieder aufzunehmen und den futuristischen Geist einstiger Heldentaten über den Umweg der musikalischen Erfahrungen mehrerer Generationen in eine neue Zukunft zu übersetzen. Dazu kann man auch einmal Stimmen aus dem Äther zurück auf den Planeten rufen wie in dem Track „Tony Williams“. „Irgendwann hatten Bill und Tony darüber gesprochen, dass Bill eine von Tonys Platten produzieren sollte. Sie kamen zusammen und nahmen diesen Track auf. Aus bekannten Gründen kam es nie zu der Platte. Bill fand, meine Platte sei das geeignete Medium, um diesen Track zu veröffentlichen. Wir bauten das Stück aus dem Track auf. Es ist ein fantastisches Gefühl, auf diese Weise mit einem Musiker zu kollaborieren, der so einen wichtigen Platz in meinem Leben eingenommen hat, aber inzwischen von uns gegangen ist. Wayne Shorter empfand genauso. Übrigens war ich ja nie mit einem anderen Musiker im Studio. Meine ganze Arbeit verrichtete ich in Form von Overdubs. Auch Wayne war allein im Studio und verlangte, dass er keinen der Tracks vorher zu hören bekam, um ganz direkt darauf zu reagieren und den Moment einfangen.“
Man mag es gar nicht glauben, dass der Saxofonist auf dem Album wirklich Wayne Shorter ist. Seine weiche Wildheit, Entrücktheit und Abstraktheit erinnert an die Tage bei Miles Davis. Wie ein junger, kreativer Wayne-Shorter-Kopist. Man wird noch lange darüber streiten können, ob „Future II Future“ ein Album Herbie Hancocks oder Bill Laswells ist. Im Grunde ist die Antwort auf diese Frage ganz unerheblich. Denn spätestens wenn Hancock mit diesem Projekt auf Tour geht und Walace Roney an der Stelle von Wayne Shorter steht, werden wir begreifen, dass der spirituelle Urheber dieser Musik kein anderer als Miles Davis ist.

Platten:

Takin‘ Off (Blue Note, 1962)
My Point Of View (Blue Note, 1963)
Maiden Voyage (Blue Note, 1965)
Mwandishi (Warner, 1971)
Sextant (Columbia, 1972)
Headhunters (Columbia, 1973)
Death Wish (One Way, 1974)
An Evening With Chick Corea And Herbie Hancock (Columbia, 1978)
Future Shock (Columbia, 1983)
Sound-System (Columbia, 1984)

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