"Spiralen der Erinnerung" heißt das erste Soloalbum von Justus Köhncke, einem Kölner Musiker, der Mitte der Neunziger als Teil des Produzententeams Whirlpool Productions mit einem Entwurf von Housemusic bekannt wurde, dessen Nähe zu HipHop unhinterfragt blieb aufgrund der Offensichtlichkeit ihres Versuches, unter dem Dach dieser Meta-Ästhetik alle möglichen - und auseinanderstrebenden - mehr oder weniger historischen, mehr oder weniger obskuren Ästhetiken der Popgeschichte zu versammeln. Trafen sich in diesem Club: Roxy Music, Scritti Politti, Hamilton Bohannon, Disco im allgemeinen, eigenartige Geräusche im besonderen. In der Regel waren die Samples dabei in einem Maße verarbeitet (oder obskur), das Wiedererkennbarkeit ausschloß; und
auf diese Weise wurde aus in Filtern tonal verformten und im Sequenzer in der Zeit zerschnittenen oder ausgedehnten Bruchstücken in die Jahre gekommener Zeichen und, ja, ganzer popkultureller Sprachen etwas Neues - mit Hilfe knöpfchendrehender Hände und im Rahmen dieses im Grunde extrem toleranten Idioms Housemusic - zusammenfügt: Gewebe, und zwar auf der Höhe der Zeit. Weil sowohl Muster als auch Farben stimmten, was man von den "Spiralen der Erinnerung" nicht gerade sagen kann.
Auf den ersten Blick handelt es sich bei "Spiralen der Erinnerung" um eine Art Karaoke. Aus vermutlich irgendeinem eher traurigen persönlichen Anlaß schaut jemand zurück, ins Plattenregal, und singt die großen Songs seines Lebens nach. Songs, die, a la Nick Hornby, eigentlich alles über einen sagen. Die quasi automatisch, als Effekt, Gefühle auslösen, deren Versammlung das ganze Feld der Gefühle eines Lebens darstellen; und, in der richtigen Reihenfolge angeordnet, dessen Geschichte erzählen.
Dieser erste Eindruck ist aber falsch.
Köhncke hätte sich den Begriff "Spiralen" schenken können, wenn es um Nostalgie ginge. "Erinnerung" hätte vollkommen gereicht. Spiralen aber sind Bahnungen, die eher mit Worten wie Verschiebung, Verirrung, Sich-Verlieren assoziert werden als mit geraden Strecken, Autobahnen und so. Die Interpretationen von Songs McCartneys, Jimmy Webbs, Carole Kings, Neil Youngs, der titelgebenden Hildegard Knef und anderer zwingt zum langsamen Fahren, äh Zuhören, weil einem ständig einer aus der Dunkelheit vors Auto springt, sozusagen, wild mit den Armen fuchtelnd und einem aufgelösten Gesichtsausdruck. Die Gestalt stellt sich einem mitten in den Weg; sie singt mit der Stimme von Justus Köhncke.
Aus dem Zentrum der Spiralen heraus seine Stimme zu erheben, umgeben von alten Songs, die man mit zeitgenössischem elektronischen Sound einkleidete, allerdings keinem Sound, der sich einer spezifischen aktuellen Schule oder Szene zuordnen ließe, bedeutet dies nicht, versteht man bestimmte Ästhetiken als Repräsentanzen bestimmter Zeiten und kulturellen Welten, sich selbst auch als zwischen solchen stehend zu beschreiben? Ich meine, wenn man mal davon ausgeht, bei "Spiralen der Erinnerung" handele es sich um ein Album, das Antworten auf Fragen der Identifikation eindringlicher einklagt als andere Musik, worauf doch einiges hinzuweisen scheint. Etwa der Titel.
Die einem beim Hören entgegentretende Gestalt kristallisiert sich heraus aus dieser Stimme Köhnckes, die hartnäckig klingt, weil sie nicht unschön ist, aber doch in den Nuancen mißgestimmt. Diese Erzähler-Gestalt materialisiert sich weder in der Medialität des Songhaften, dem zweifellos die Repräsentation einer Sechziger- oder Siebziger-Jahre-Pop-Subkultur zugeschrieben werden kann, noch in der Medialität von House- oder Technokultur. Sie entsteht in einem Zwischenraum, der, angebunden an die beiden erwähnten kulturellen Räume, auch andere, bestimmte angedeutete Kunstszenen etwa, zustande kommt, indem er von dieser Stimme ausgefüllt wird. Kein Wunder, daß sie - bei einem solchen Kraftakt: in verschiedene Richtungen und nicht direkt von einem Ort aus zu sprechen - an den Rändern etwas ausfranst.
Anders gesagt erzählt "Spuren der Erinnerung" gerade nicht - oder zumindest nur grob skizziert und nicht zentral - die Geschichte eines Mannes, der in den siebziger Jahren aufwuchs und sich später für Housemusic und Kunst zu begeistern begann und heute aus irgend einem Anlaß zurückblickt, um daraus die Kraft zu schöpfen, weiter irgendein Ziel zu verfolgen, das er lange schon im Blick hat, jedoch gelegentlich, nur gelegentlich allerdings, aus den Augen zu verlieren drohte. Vielmehr spricht "Spiralen der Erinnerung" eher von einer Erfahrung, die einen möglichen Erzählstrang für das eigene Leben nicht kennt und in der Vergangenes, gleichgültig, ob deutlich oder unscharf erinnert, ebenso wie potentiell Zukünftiges in der Gegenwart auf einen einströmen. Mehr nicht. Verallgemeinert im Hinblick auf die Popkultur im Ganzen spricht das Album demnach - wie andere auch, jedoch ungewöhnlich nachdrücklich und deutlich - davon: Der Umstand, daß Popkultur mittlerweile Geschichte hat, heißt noch lange nicht, man müsse nur genau oder lange genug hinschauen, um aus dieser Ansammlung von Sounds, Harmonien, Images, Bildern, Anekdoten eine allgemeinverbindliche - und damit wirklich: identitätsstiftende - Erzählung herauslesen zu können. Die Popkultur der neunziger Jahre ist auch diesbezüglich keine heilere Welt als andere. Man verliert sich hier unter Umständen lediglich auf angenehmere Weise.
"Spiralen der Erinnerung" ist eine wundervolle Platte, nicht zuletzt weil sie eine Position Gegenwart formuliert, eine Gestalt, die schwer auszudrücken ist, weil ihre Besonderheit gerade darin liegt, sich nirgendwo zu finden,
außer in Verschiebungen und verhuschten, spiralförmigen Irgendwohinbewegungen. Wenn Karaoke bedeutet, sich in der Gegenwart zu finden, indem man sein Lieblingslied singt zu dessen Tonspur, die sozusagen,
was das Sounddesign betrifft, normativ sein muß, um unauffällig sein d.h. in der Gegenwart aufgehen zu können, ist Köhnckes schräges, bezauberndes Album soetwas wie Karaoke, durchgestrichen. Eine nicht wirklich gestimmte Stimme in der Gegenwart, die darauf hinweist, daß man sich in der Gegenwart nicht wirklich stimmig fühlt.