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Last Exit Crooklyn
Die Word-Sound-Gemeinde im Ödland von Brooklyn

Wolf Kampmann
Du steigt am Union Square, dem brodelnden Herzen Manhattans zwischen Soho und Greenwich Village in den L-Train nach Brooklyn, fährst drei Stationen und bist auf einem anderen Planeten. Du läufst die unfreundliche Badford Avenue hinab, drei Blocks oder vier. Leere Plastiktüten werden vom Wind wie Fallschirme über die Straße geblasen. Du biegst in eine jener schmutzigen Straßen, die links und rechts von stillgelegten Industriegebäuden gesäumt werden. Rostige Wassertanks ragen gell in den Himmel, Stacheldraht schützt verwaiste Grundstücke vor neuen Bewohnern. Dort, wo der Asphalt von Geröll und gefrorenem Matsch abgelöst wird, erstrecken sich Fronten einstöckiger Lagerhäuser mit zerbrochenen Fenstern und klaffenden Löchern, die einstige Türen ahnen lassen. Kein Mensch ist zu sehen, nur eine Möwe zieht träge den gebrochenen Flügel hinter sich her. Am Horizont zeichnet sich grau die Silhouette von Manhattan ab. Wo man der Welt schrillstes Farbspektrum weiß, reicht die Palette jetzt von Hell- bis Dunkelgrau. Du willst zurück, doch vor einem gedrungenen Zweistöcker mit lila gestrichenem Garagentor bleibst du stehen. Hier denkt das Hirn von Word Sound.

Nach mehrfachem heftigen Klingeln erscheint an einem Fenster der oberen Etage ein Gesicht mit Hut. Man solle kurz warten, er komme gleich runter. Gemächlich schlürft der Bewohner jener Festung inmitten des Ödlands über den Hof, dem massiven Gittertor entgegen. Eine kurze Musterung aus wachen, mandelförmigen Augen, und schon wird man freundschaftlich begrüßt, gerade so, als würde man hier wöchentlich vorbeischauen. „Ich bin, Skiz wie geht´s!“ Im Nu ist man Mitglied jener Familie von Outlaws, die sich hierher zurückgezogen hat, um der gehetzten Oberflächlichkeit von Manhattan Lebewohl zu sagen und eigenen Gesetzen zu folgen. Skiz Fernando ist der Mann, der das Word Sound Imperium hier am Rande der Brooklyner Nachbarschaft Williamsburg aufgebaut hat. Die Bevölkerung setzt sich hauptsächlich aus Polen, Ukrainern und Russen zusammen. Menschen, die vor gar nicht allzu langer Zeit mit großen Hoffnungen nach Amerika aufgebrochen sind und sich nun am Tellerrand des Wohlstand an den verdörrten Grashalmen ihres amerikanischen Traumes entlanghangeln. Viele von ihnen leben und arbeiten in den sogenannten Projects, die ihnen die Wiedereingliederung in die Gesellschaft ermöglichen sollen. Eigentlich will niemand hier wohnen. Wer es sich leisten kann, flieht in das nahegelegene Park Slope oder nach Manhattan. Dieser Umstand hält die Mieten niedrig. Und das wiederum zieht seit wenigen Jahren Künstler unterschiedlichster Coloeur in die Gegend. Skiz, Sohn srilankesischer Einwanderer, wußte gar nicht, was auf ihn zukam, als er sich mit seinen Compagnon Jeremy vor gut drei Jahren von Spanisch Harlem nach Brooklyn aufmacht. „Wir kannten hier niemanden. Aber sowie wir uns in diesem Bezirk niederließen, ergaben sich die ersten Kontakte. Gleich um die Ecke lebte Professor Shehab. Wir saßen oft mit ihm herum. So entstand das Projekt Scarab, das vielleicht der Grundstein für Word Sound war. Dann hörten wir zusammen ein paar Laswall-Platten. Ich fand heraus, daß Laswells Greenpoint-Studio nur fünf Minuten von uns entfernt war. Kurz darauf lernten wir ihn kennen. Doctor Israel wohnte ebenfalls nur drei Blocks von unserer Wohnung entfernt. Wir trafen ihn, als er das rot-golden-grüne Schild seines Studios Bass Mind malte.“ Und ehe man sich versah, hatte sich ein kleines Völkchen von Musikern und Weltverbesserern zusammengefunden, das sich Word Sound nannte und unter diesem Logo Platten herausbringen wollte. Keine Plattenfirma, die nach herkömmlichen Strukturen funktionierte, sondern eine Gemeinschaft Auserwählter, die sich selbst als die geistigen Fortfahren der Illumination betrachteten. Der Begriff Brooklyn wurde durch Crooklyn ersetzt. Das englische Wort crook bedeutet sowohl Krümmung als auch Gauner. Eine treffende Umschreibung für das Flair von Brooklyn, das so ganz anders ist als das von Manhattan, aus dem New Yorks Bürgermeister Giuliani momentan eine Wiege des Friedens und Anstands machen will. Das Crooklyn Dub Consortiom stand für die neue Ästhetik des vergessenen Planeten, der plötzlich zu neuem Leben erwachte. Stilistische Einengungen gab und gibt es nicht. Die Ausdrucksformen der Word Sound-Künstler sind so vielfältig wie das Leben in Crooklyn. „Wir nennen Crooklyn den Meeting Spot of the Lost Tribes“, erklärt Skiz Fernando mit verschwörerischer Miene. „Wir alle sind Mitglieder der verlorenen Stämme. Wir können bestimmte Länder oder Kulturen beanspruchen. Wir sind Bastarde. Ich habe überall auf der Welt gelebt und kleine Bissen von jedem Ort, an dem ich mich aufhielt, verschluckt, die ich jetzt verdauen will. Die Musik von Crooklyn ist definitiv von der Stimmung des Stadtteils beeinflußt. Hier siehst du, daß das Jahrzehnt weitergeht. Nicht nur in New York, sondern in Amerika allgemein kannst du den Niedergang des amerikanischen Empire sehen. Jedes Weltreich ist irgendwann zusammengebrochen, aber was jetzt um uns herum passiert, ist ziemlich krank, denn man fühlt sich wie im Krieg. Die Cops sind gerade dabei, die Straße zu übernehmen. Überall hast du Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die sich in Drug Dealing, Waffen und Prostitution ausdrücken. Wir wollen uns aber nicht dieser Depression hingeben, sondern den allgegenwärtigen Schmerz kanalisieren und in Musik ableiten. Deshalb klingt ein Großteil unserer Musik so düster. Wir absorbieren die Finsternis von unserer Umwelt und setzen diese kriminelle Energie in Musik um.“

Der gemeinsame Nenner der Word-Sound-Künstler heißt Dub. Zwar ist Skiz Fernando mit Reggae und Hip Hop aufgewachsen und hat schon als Schüler begonnen, theoretische Aufsätze über die Hip Hop-Kultur zu schreiben, doch sind die Sprossen seines Labels den Wurzeln seiner ästhetischen Erkenntnis längst entwachsen. Auf den Word-Sound-Platten tummeln sich Ambient-Tüftler genauso wie Dub-Prediger, Jazz-Musiker wie Jungle-Propheten, stilistisch festgelegte Sound-Puritaner ebenso wie erklärte Eklektizisten. Zu letzteren gehört Skiz selbst. So produzierte er in Kollaboration mit Bill Laswell in finstersten Tiefen blubbernde Dub-Statements wie auch ein fröhliches Reggae-Country-Album unter dem Titel „Dread Western“. Sich nicht einengen zu lassen, ist Teil der Strategie. Immerhin sieht Skiz in seiner Word-Sound-Community eine Dub Guerilla. „Es ist ein Guerilla-Denk-Panzer. Alle Künstler, die in Word Sound involviert sind, sind im hohen Maße Individualisten und unabhängige Geister. Sie lassen sich nicht von den Gruppen der Gesellschaft kontrollieren, die alles und jeden unter Kontrolle haben wollen. Wir machen alles selbst. Aus diesem Grund haben wir ja auch das Label gegründet. Wir wollten unsere Musik einfach selbst produzieren und veröffentlichen. Dieser Do It Yourself-Anspruch korrespondiert mit jedem Aspekt unserer Arbeit.“

So übel, wie es den Außenstehenden erscheinen mag, ist Crooklyn nun auch wieder nicht, mein Skiz. Die Gewalt sei in den letzten Jahren erheblich zurückgegangen, und dank den Projects sei das Elend von den Straßen verschwunden. Grund zu Optimismus gibt es dennoch kaum. Die Anzeichen von Fäulnis und Agonie sind in Skiz´ unmittelbarer Umgebung allgegenwärtig. Und was ich hinter den schmutzigen, meist verbarrikadierten Fassaden abspielt, steht ohnehin auf einem ganz anderen Blatt. Daß er an den äußeren Umständen in Crooklyn nichts ändern kann, weiß Skiz wohl. Er hat es auf die Denkstrukturen abgesehen. Dub ist voller subliminaler Botschaften. Nicht nur die Bevölkerung des größten New Yorker Stadtbezirkes lechzt nach Alternativen zum täglichen Einerlei, nach neuen Inhalten und einer neuen Identität. Dies zu vermitteln ist der Anspruch des Word-Sound-Imperiums. Ein nicht ganz ungefährliches Unterfangen. Die Spekulation mit der Hoffnungslosigkeit und der Sehnsucht des Einzelnen nach Selbstverwirklichung in den Grauzonen der Gesellschaft hat schon so manches gut und ehrlich gemeinte soziale Unterfangen zur Sekte ausarten lassen. Die Voraussetzungen in Crooklyn sind günstig und der Ansatz auf jeden Fall vorhanden. „Die meisten Menschen“, so Skiz, „sind heute sehr verschlossen und beschäftigen sich nur mit sich selbst. Wir versuchen, die Ansichten und das Bewußtsein der Leute zu öffnen. Dinge die größer sind. Die Welt, wie wir sie täglich wahrnehmen, ist hauptsächlich das, was wir berühren, sehen und riechen. Musik hingegen ist das Tor zu einem anderen Raum. Wenn es uns gelingt, positive Botschaften und wirkliche Informationen zu den Menschen zu tragen, werden wir Einfluß gewinnen. Die Substanz, nach der alle auf der Suche sind, bekommst du nicht von Michael Jackson. Wir wollen den Menschen Bildung im gleichen Maße wie Unterhaltung geben. Mehr als das geht es uns jedoch um einen Geist der Verbindung. Wir alle sind Menschen und sollten auf einem bestimmten Niveau miteinander verbunden sein. Eine transzendente Verbindung, die alle Grenzen von Rasse, Religion und Geschlecht überwindet.“

Schon geht diese Verbindung weit über die Bezirksgrenzen von Brooklyn hinaus. Aus Los Angeles kommt Prince Charming, dessen Album „Psychotropical Heatwave“ Ende letzten Jahres erschien, und die Ambient-Musiker Ernaldo Bernocchi aus Italien und Mick Harris aus England gehören zu den jüngsten Teilhabern der Crooklyner Subversion. Letzterer hat übrigens eine erstaunliche Reise vom Death Metal mit Napalm Death über alle erdenklichen Spielarten des Noise Rock unter anderem mit Painkiller bis hin zum Trance mit Lull, Ambient mit Scorn und seit jüngster Zeit Jungle hinter sich. Harris ist die europäische Personifizierung des Work-Sound-Anspruches.
Skiz Fernando weiß um sein Charisma. Er ist bescheiden, zurückhaltend, in der Öffentlichkeit fast scheu. Und doch treibt er mit eisernem Willen sein Projekt voran. Als sich hinter mir das eiserne Gitter wieder schließt, sehe ich das Viertel um die Badford Avenue mit anderem Blick. Plötzlich stechen mir Graffitys in die Augen, die ich vorher schlicht übersehen hatte. Es ist Winter, und doch weiß ich, daß aus dem fauligen Rinnstein im Frühling Löwenzahn sprießen wird. Crooklyn bricht auf. Skiz Fernando und Word Sound sind die Stimme einer Kultur der Außenstehenden.

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