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Simon Fisher Turner

Elisabeth Nagy
Wo auch immer der Mensch ist, er sperrt die Augen und Ohren auf. Der Mensch möchte hinter die Dinge blicken, er möchte von allem Kenntnis erhalten. Simon Fischer Turner (kurz SFT) ist auch so ein Mensch. Gerüstet mit einem Sony-Tranisterradio und einem DAT-Player streift er durch die Welt. Was er hört nimmt er sogleich auf. Teilweise weiß er gar nicht, was er da eigentlich auf Band nimmt: diffuse Klangfetzen aus lokalen Radiostationen, Kirchenglocken, Straßenlärm, Motorengeräuschen usw.. All das setzt er in einen neuen Kontext, nach seinen eigenen Vorstellungen. SFT schafft aus seiner Klangkollektion Filme. Er ist ein Meister der imaginären Filmmusik.

Diese Herangehensweise hat Tradition. Zuletzt haben Brian Eno und U2 unter dem Namen Passengers eine Platte mit Stücken, die sich zur Verwendung von Soundtracks eignen, herausgegeben (Passenger: Original Soundtracks Vol. 1). Tatsächlich war es Brian Eno, der bereits 1978 ein Album mit dem Titel Music for Films veröffentlicht hatte. (SFT wurde allerdings nach eigenen Angaben durch die LP Music for Gandharva von 1971 beeinflußt). In London legen DJs wie Tricky im Rocket Cinema ihre Platten auf, während sie alte Filme abspielen. Der Künstler Bill Frisell nahm sogar ein Doppelalbum zu den Filmen von Buster Keaton auf (Bill Frisell: Music for Fils of Buster Keaton: The High Sign/One Week; Go West, Elektra Nonesuch 1995). Das Label Mute Records nun besitzt das Unterlabel Fine Line, das sich imaginären und tatsächlichen Film-Musiken widmet. Ihr erfolgreichste Veröffentlichung ist sicherlich Barry Adamsons Moss Side Story. Meistens erhält ein sogenannter Soundtrack nur noch mehr oder weniger gelungene Zusammenstellungen von Pop- und/oder Rap-Stücken. Nur wenige Regisseure schreiben auch ihr eigene Filmmusik, wie John Carpenter und Mike Figgis; selten verschmilzt die Zusammenarbeit zweier Künstler zu einer Symbiose wie Sergio Leone & Ennio Morricone, Peter Greenway & Michael Nymann, Frederico Fellini & Nino Rota. SFT besitzt einen ähnlich starken Hintergrund. Er war der Hauskomponist von Derek Jarman. Als er Ende 1996 sein erstes eigenständiges Album mit dem Titel Shwarma veröffentlichte, wunderte ich mich nicht, daß sich die Musik einem imaginären Film zuschreiben ließe.

Zuerst war SFT in der kommerziellen Ecke des Musikgeschäftes tätig. In einem Interview gestand der Mann mir, daß er einst dumme Popsongs geschrieben hätte. Später traf er dann auf Matt Johnson, gemeinsam gründeten sie die Formation The The. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten auch Marc Almond und Foetus. Johnson führte die Arbeit schließlich allein fort, und die anderen, auch SFT, beschritten ihren eigenen Weg. SFT gründete mit einem Freund das Duo Deux Filles (sie kleideten sich als Frauen). Später musizierte er unter dem Namen Jeremy´s Secret. Ein weiteres Alter Ego war der Name The King of Luxembourg.

Das große Publikum lernte SFT erst als den Komponisten von Derek Jaman kennen. Ihre Zusammenarbeit begann, als SFT als Chauffeur für den Regisseur arbeitete. Nach dem Kurzfilm Sloane Square, schrieb SFT die Musik zu Caravaggio, Last of England, The Garden, Edward II und Blue. SFT gehört nicht zu denen, die ihre musikalischen Ideen nach der Sichtung der Rohfassung eines Films formulieren. Statt dessen ist er von Anfang an bei den Dreharbeiten dabei, wenn nötig, erkämpft er sich die Erlaubnis, am Set zu sein (natürlich war das bei Jarman nie ein Problem). Es kam sogar schon einmal vor, daß nach dem Dreh einer Szene diese noch ein weiteres Mal wiederholt wurde, nur damit der Klangkomponist die Szene mit dem Mikrofon einfangen konnte. Die Zusammenarbeit zwischen Jarman und Fisher Turner gipfelte in der Veröffentlichung von Blue (nicht zuletzt, da dieser Derek Jarmans letzter Film blieb). Blue ist eine einzigartige und ungewöhnliche Produktion. Der Film wird ausschließlich von einem bestimmten Blau beherrscht (Jarman kämpfte im Verlauf seiner Krankheit immer wieder mit temporärer Erblindung). Über der blauen Leinwand, auf der Tonspur, passieren dann die Dinge: Der Ton ist der Film.

Nach dem Tod von Derek Jarman hat SFT bis jetzt zwei Filmmusiken veröffentlicht. Er schrieb die Musik zu Michael Almerydas Film Nadja, und für Anne Campion (die Schwester von Jane) komponierte der die Musik zu Loaded. Nach neuesten Informationen steht eine Zusammenarbeit mit Vincent Cassel (einer der Darsteller von Hass) an.

Das Debütalbum von SFT, also Shwarma, ist nicht leicht zu konsumieren. Der Komponist selbst zieht den Vergleich zu einem Spaziergang über einen Basar. Sieben Monate arbeitete er an dem Material. Das Grundgefüge nahm er an zwei Tagen auf, zusammen mit den Technikern Kevin Paul und Russel Haswell. In Loops schufen sie den Hintergrund für 75 Minuten Spielzeit. Diese Basis verknüpfte SFT mit dem Klangmaterial, das er auf seinen Reisen gesammelt hat bzw. das ihm Freunde von den unterschiedlichsten Orten schickten (laut Plattenco-ver aus Tokio, Berlin, Bangkok, Jerusalem, Brixton usw.). Freunde wie Bruce Gilbert schickten ihr Material. Die Klarinettistin Kate St. John trug ihm ihre Hilfe an. Gina Birch aus der Band Raincoats spielte für ihn. Joeclyn West und Martyn Bates schickten Vocals. Gedichte trafen von Quentin Stevenson und Nasion Hadin ein. SFT schrieb tatsächlich ein Drehbuch zu seinem Album, um sich die Arbeit zu erleichtern. Er nahm seine Arbeit in Angriff, so, als arbeite er an einem Film, nur diesmal ist er der Regisseur. Der Zuhörer dagegen stellt sich vor, was immer er möchte. Am ehesten kann sich bei Shwarma auf eine Weltreise begeben. SFT gibt uns nur die Anleitung, die Platte entweder mit voller Lautstärke oder nur sehr leise zu hören. Alles andere überläßt er unserer Phantasie.

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